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Stellungnahmen zur kirchlichen Not in Steglitz

Aus dem Kirchlichen Familienblatt

In den Jahren vor dem Bau der Markuskirche spürten Pfarrer und Gemeindeglieder immer deutlicher, dass viele Menschen sich von der Kirche innerlich zurückzogen. Zwar waren immer noch etwa 90 Prozent der Steglitzer evangelisch, und die wichtigen Stationen des Lebens wurden noch mit Hilfe von Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung gestaltet. Aber der Gottesdienstbesuch ließ deutlich nach, auch am Abendmahl nahmen immer weniger teil. Und insgesamt war eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche zu spüren. Die sich mit ihr verbunden fühlten, befürchteten, dass sie weiter an Bedeutung verlieren würde und versuchten herauszufinden, was die Gründe dafür sein könnten. Pfarrer Dr. Oskar Bogan beklagte im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ vom 2. Januar 1910 unter dem Titel „Ist in der evangelischen Kirche noch Leben? die fortschreitende Entkirchlichung und zitierte aus einem bekannten evangelischen Gemeindeblatt:

Unsere sozialdemokratischen Arbeiter haben sich durch keine noch so treue und vorurteilslose Gemeindearbeit der Kirche zuführen lassen. Unser Bürgertum ist durch nichts aus seiner sündhaften Gleichgültigkeit herauszubringen. Unsere gebildete Männerwelt unterstellt sich nicht der geistigen Führung der Pastoren zum Zwecke der Gemeindeorganisation und hat, wo sie sich überhaupt für Volkserziehung interessiert, andere Wege und Weisen der Betätigung, als die Mitarbeit am kirchlichen Gemeindeleben. Die kirchlich-konservativen Kreise entziehen sich in nicht wenigen Fällen dem Gemeindepfarrer, der nicht ganz und gar ihr Mann ist. Die Heranziehung von Mitarbeitern macht den Pfarrern unsägliche Mühe; es ist wie das Anstoßen einer Uhr, die nicht mehr gehen will. Die Unkirchlichkeit, fast überall im Wachsen begriffen, ist so groß, daß man sich ihren vollen Umfang nicht gern eingesteht. Die evangelische Kirche im Volksbewußtsein ist herabgesunken zu einer kirchlichen Anstalt, die ihre „Sakramente spendet und die man eben für diese Sakramente in Anspruch nimmt. Und das Volk zählt deren nach Durchstreichung des Abendmahls vier. Da ist die Taufe am Eingang des Lebens, die man als Weihe für das Familienfest braucht; da ist die Konfirmation, die die heranwachsende Jugend aus der Kirche a u s segnet; da ist die Trauung als willkommener Anfang und unentbehrliche Weihe für das weltliche Fest; da ist zuletzt das kirchliche Begräbnis als Abschluß und Krone eines b ü r g e r l i c h rechtschaffenen Lebens. Dann zieht man einen langen Strich und setzt darunter ein Wort, das ein feiner Satiriker vor Jahren schrieb: „…daß du im übrigen uns zufrieden läßt, liebe evangelische Kirche und dir bewußt bleibst, daß wir auch ohne dich leben können.

Eine Ursache für die Entfremdung der Menschen von der Kirche bestand darin, dass für die schnell gewachsene Bevölkerung zu wenig Pfarrer da waren. In Steglitz gab es in der Zeit von 1905 bis 1912 für  jeweils etwa 10.000 Gemeindeglieder nur einen Pfarrer. Da war es schwer, einen persönlichen Kontakt aufzubauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Pfarrer Karl Otto Raack gab diesem Zustand im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ am 26. November 1911 unter der Überschrift „Das moderne Gemeindeideal“ Ausdruck:

Die Verhältnisse hier in Groß-Berlin sind vielleicht die allertraurigsten im ganzen Reich. Auf der letzten Generalsynode sagte der erste Geistliche der Landeskirche, Dryander: „Die Kirchenbehörde kann nur raten und anregen. Helfen können allein die Gemeinden. Wenn die aber versagen, wenn in ihnen kein Leben, kein Zusammenhang ist – und wie wäre das bei 40 000, 50 000 möglich –, wenn ein Arbeiter seinem Geistlichen antworten kann: Fünfzehn Jahre wohne ich nun in dieser Gemeinde, und niemand hat sich all die Jahre um mich gekümmert; nur jetzt, wo ich austreten will, kommt der Pastor angelaufen – ist das nicht eine ungeheuerliche Verschuldung? Das trifft den Nagel auf den Kopf. Und wir in unserer Steglitzer Gemeinde sind nicht weit von 70 000! …Wie ist es bei dieser Struktur möglich, festen Boden für den Bau lebendiger Gemeinden zu gewinnen? Es ist furchtbar schwer.

Es gab auch zu wenige Kirchen in Steglitz für die vielen Gemeindeglieder. Als Pfarrer Theodor Moldaenke im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ am 6. Februar 1910 „Die Austrittserklärungen aus der evangelischen Landeskirche“ analysierte, existierte für die etwa 54.000 evangelischen Christen nur die 1880 eingeweihte Matthäuskirche mit 1000 Plätzen und das 1907 errichtete Gemeindehaus in der Mittelstraße 33. Und so mahnte er:

Die Gemeinde Steglitz ist schnell gewachsen. Der neue Kirchbau im Südender Ortsteil, auch wenn er baldmöglichst in Angriff genommen wird, kommt schon zu spät [gemeint ist die Markuskirche]. Das gibt Lehren für die Zukunft und für baldige Vorsorge eines zweiten Kirchbaues an der Bergstraße [gemeint ist die Lukaskirche]. Bei aller Wahrung der Einheit der Gemeinde besonders in der Kirchensteuerleistung wird doch durch Vermehrung, Vertiefung und Ausbau der Bezirkseinteilung unsre Gesamtgemeinde vor dem bösen Schicksal einer Massengemeinde bewahrt bleiben müssen.

die 1880 eingeweihte Matthäuskirche verfügt über 1000 Sitzplätze
die 1880 eingeweihte Matthäuskirche verfügt über 1000 Sitzplätze