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Das moderne Gemeindeideal (nach Emil Sulze)

Aus dem Kirchlichen Familienblatt

Der Steglitzer Pfarrer Karl Otto Raack machte sich Gedanken, wie die Gemeindearbeit so organisiert werden kann, dass trotz der großen Zahl der Gemeindeglieder ein persönlicher Kontakt und Austausch untereinander möglich ist. Für ihn war das zufällige Aufeinandertreffen der Menschen in Straßenbahn und Omnibus ein Sinnbild für anonyme Massen, die weiter nichts miteinander zu tun haben. Das sollte für die Kirchengemeinde nicht gelten. Und so schrieb er im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ in seinem Beitrag „Das moderne Gemeindeideal“ am 15. Oktober 1911:

Wir müssen dahin streben, daß wir in der Kirchengemeinde keine Omnibus- oder Straßenbahngesellschaft sind, die sich jetzt planlos und wahllos zusammenfindet und ebenso ziellos wieder auflöst, sondern eine Arbeitsgemeinschaft werden: alle, die ein Herz haben für das Evangelium und eine übersehbare Einheit bilden, müssen einander kennen lernen können, müssen zur Arbeit aller an allen sich zusammenschließen.

Das moderne Gemeindeideal basierte auf Ideen von Emil Sulze (1832-1914), der als Pfarrer in Sachsen mit riesigen Gemeinden von 47.000 und 60.000 Menschen zu tun hatte. Er stellte sich folgendes vor: Der Pfarrer ist für etwa 5000 Gemeindeglieder zuständig. Sein Gemeindegebiet wird in überschaubare Einheiten aufgegliedert, die von ausgesuchten Laien, so genannten „Hausvätern“, betreut werden. Ausgebildete Laienseelsorger übernehmen auch einen Großteil der Pfarrtätigkeit. Der Pfarrer leitet sie an und koordiniert vor allem. Neben den „Hausvätern“ gibt es einen Kreis ausgewählter, durch ihren moralischen Lebenswandel besonders geachteter Männer, der über die Tätigkeiten und das Leben der Gemeinde bestimmt. In der Fortsetzung seines Artikels zum modernen Gemeindeideal im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ am 29. Oktober 1911 führte Pfarrer Raack den Leser auf einem gedanklichen Spaziergang durch die Gemeindräume:

Wir suchen die Gemeinde nicht zunächst in ihrem Gottesdienst, nicht in ihrer Feier, sondern in ihrer Arbeit auf. Da führt uns unser Weg freilich auch ins Gotteshaus, nur nicht in den gottesdienstlichen Raum. Wir betreten vielmehr das Sitzungszimmer. Es findet eben eine Versammlung statt. Der Pfarrer, der einzige Geistliche der 5000 Seelen zählenden Gemeinde, leitet sie. Die Versammlung zählt vielleicht 200 Köpfe, darunter 20 Aelteste, die übrigen Hausväter, die von den Aeltesten erwählt und zu einem Verbande geeint sind. Was für Erfahrungen der einzelne Hausvater in seiner Arbeit gemacht hat, auf welche Schwierigkeiten er gestoßen ist, welche weiteren Schritte er vorschlägt, davon nimmt die Versammlung Kenntnis, darüber hält sie brüderliche Aussprache, darüber faßt sie Beschluß. Es gilt einen dem Trunke verfallenen Bruder der Gemeinde zu retten, seine Familie zu versorgen … Ein anderer Hausvater berichtet von der Versorgung einer verwaisten Familie: ein Vormund ist bestellt, natürlich ein Glied der Gemeinde; die Armenkasse der Gemeinde wird auf des Hausvaters Antrag der Witwe Erziehungsbeihilfe gewähren… Die tüchtigsten Männer der Gemeinde bilden eine Gemeinde in der Gemeinde; von ihr aus übt das Gemeindegewissen seine Macht. In diesen engern Kreis aufgenommen zu werden, ist die höchste Ehre. Sie wählen die Geistlichen und die Aelstesten, beschließen die Selbstbesteuerung, pflegen die Zwecke des Gustav-Adolf-Vereins, der innern und äußern Mission.

Das moderne Gemeindeideal sah vor, dass die Gemeindeglieder einen großen Teil ihrer freien Zeit miteinander verbringen und alle Belange des sozialen Lebens miteinander teilen. So wollte man ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen, aber auch zur gegenseitigen Erziehung und Ermahnung beitragen, um sich moralisch zu vervollkommnen, wie Pfarrer Raack im „Kirchlichen Familienblatt für die evangelische Gemeinde Steglitz“ am 29. Oktober 1911 erläuterte:

Vor allem aber entfaltet sich auch ein lebhafter geselliger, sozialer Verkehr. In den dafür bestimmten Räumen des Gotteshauses versammeln sich hier die jungen Mädchen, dort die Jünglinge; Gesang wechselt mit belehrendem Wort, Ernst mit Scherz. Ohne Unterschied des Standes verkehren die Erwachsenen miteinander, bald erfreut durch Musik, bald erbaut durch die ernste Rede eines Gemeindegliedes, gestärkt in ihrem Gemeinschaftsgefühl, aber auch im Gemeindegewissen, denn Unwürdige sind von diesem Verkehr ausgeschlossen. So macht die Gemeinde selbst Ernst mit dem Wort, das am Sonntag ihr zu Herzen gegangen ist. Das Wirtshausleben ist fast ganz geschwunden. Wie eine große Familie verkehrt die Gemeinde untereinander.

Die Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaftssinn der Kirchengemeinde sollte sich auch darin ausdrücken, wie kirchliche Riten und kirchliche Feste begangen werden:

Auch das Weihnachtsfest feiert die Gemeinde gemeinsam. Die armen Konfirmanden empfangen dabei von der Gemeinde, was sie zum Konfirmationstag bedürfen … Den Höhepunkt ihrer einigenden Gemeinschaft erlebt sie in der gottesdienstlichen Feier. Der gottesdienstliche Raum ist im Vergleich mit früheren Kirchen klein, einfach, aber anheimelnd. Altar, Predigtpult und Orgel stehen im Angesicht der Gemeinde … Besonders ernste Tage sind für die Gemeinde die Abendmahlsgottesdienste, wie am Bußtag, Karfreitag, nach der Konfirmation und am Jahreschluß. Sie sollen den Teilnehmern zum Bewußtsein bringen, daß die Gemeinde eine Lebenseinheit ist, ein lebendiger Leib, dessen Haupt Christus ist. Die Tauffeiern finden nur an bestimmten Sonntagen statt, gleichfalls unter Teilnahme der Gemeinde. Es wird wirklich Gottesdienst gehalten, und der Ernst der Handlung wird von allen lebendig empfunden.